F. B. Schenk u.a. (Hrsg.): Der Süden

Title
Der Süden. Neue Perspektiven auf eine europäische Geschichtsregion


Editor(s)
Schenk, Frithjof B.; Winkler, Martina
Published
Frankfurt am Main 2007: Campus Verlag
Extent
233 S.
Price
€ 29,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Alexander Korb, DHI Rom/Humboldt Universität Berlin

Die Frage, was der europäische Süden sein soll, wurde während der letzten Monate in Europa an Hand des politischen Raumprojektes einer Mittelmeerunion heftig diskutiert. Geht der Süden den Norden überhaupt etwas an (sprich: soll Deutschland dabei sein)? Gehört Israel mit in das Mittelmeerboot? Und wofür genau soll eine Mittelmeerunion gut sein? Handelt es sich um ein postkoloniales Nachbarschaftsprojekt der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich samt aller Probleme, die eine allenfalls teilweise aufgearbeitete Kolonialvergangenheit mit sich bringt? Oder um ein neues Vehikel der EU-Außenpolitik? Vor dieser Folie ist der von Martina Winkler und Frithjof Benjamin Schenk herausgegebene Sammelband eine interessante wie kritisch zu beleuchtende Lektüre. Beide lehren osteuropäische Geschichte in München und Berlin, und dieser Hintergrund macht den Reiz des Bandes aus, denn die großen Debatten über Raumkonzepte wurden bisher vor allem im Rahmen der Osteuropäischen Geschichte verhandelt. Nun stellten Kollegen und Kolleginnen aller Himmelsrichtungen im Jahr 2005 auf einer Tagung am Berliner Kolleg für vergleichende Geschichte Europas der Freien Universität Berlin die Frage nach dem Süden: Welchen Stellenwert hat dieser auf den mental maps Europas, wie erfolgte der Konstruktionsprozess der Raumkategorie „Süden“, und welchen Wandlungen war diese unterworfen? Daran schloss sich die Frage an, was aus dem Wissen um den Konstruktionscharakter dieses Raumbegriffes eigentlich folgt. Welchen Sinn macht ein geschichtsregionaler Zugang, und wie sieht der Umgang mit dem Erbe aus, das ihn belastet? In neun Aufsätzen befassen sich nun ein Geograph sowie zehn Historikerinnen und Historiker mit diesen auf der Konferenz gestellten Fragen. An den beiden Leitfragen soll auch diese Besprechung ausgerichtet werden, und nicht an der nicht für alle Aufsätze stichhaltigen Dreiteilung des Bandes in „Geschichtsregionen und das Erbe Braudels“, „Der Süden in Geographie und Sozialwissenschaften“, und „Politik und Identität“.
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Südeuropa bildete während der Auseinandersetzungen um die kognitiven Karten während der letzten Jahre einen blinden Fleck, konstatieren Schenk und Winkler in einer sehr lesenswerten und konzisen Einleitung. Für Ost-, West- und Nordeuropa wurden die normativen Konnotationen der Raumkonzepte erforscht. Der Süden hingegen wird meist unter der ost- und der westeuropäischen Geschichte subsummiert. Dies ist erstaunlich, so Winkler und Schenk, da Europa traditionell als ein aus einer nördlichen und südlichen Hälfte zusammengesetzter Kontinent betrachtet wurde. In dieser Wahrnehmung galt der Süden als Wiege der Zivilisation. Dramatisch verlief der Umdeutungsprozess seit dem 18. Jahrhundert: In einer Zeit des Aufstiegs Europas zu einer globalen Größe, des Triumphes des Eurozentrismus westlicher Prägung, der Ausbreitung eines protestantisch geprägten bürgerlichen Wertekanons, wuchs mit der Abgrenzung von den Kolonien und vom Orient auch das Bedürfnis nach Grenzziehungen und nach Binnendifferenzierungen, so Martin Baumeister in seinem Beitrag. Aus dem Süden wurde eine Region der Inferiorität, der Kriminalität und der Unordnung.

Als Antwort auf die erste Leitfrage zeigen die Autoren und Autorinnen bestimmte Bilder vom Süden auf den kognitiven Landkarten anderer, meist nördlich gelegener, mit einem Superioritätsgefühl ausgestatteter Regionen Europas auf. Hierin liegt die Stärke des Bandes. Dies liegt neben der überzeugenden Darstellung der Raumbilder auch daran, dass die Autoren in entscheidenden Punkten eine ähnliche Argumentation verfolgen. Zum einem rekurrieren die Beiträger auf die Vagheit und der Hybridität der Bilder vom Süden. Die Attraktion der Zweideutigkeit äußerte sich zum Beispiel in der Wahrnehmung der Besucher Italiens: Fasziniert blickten sie auf den vermeintlichen Kontrast zwischen einer großen Vergangenheit und einer erbärmlichen Gegenwart, zwischen der Schönheit der natürlichen Gaben des Südens auf der einen und jammervollem menschlichen Versagen auf der anderen Seite, wie Martin Baumeister schreibt (S. 35). Dies war jedoch keine alleinige Schöpfung der auswärtigen Besucher, denn gerade in der italienischen Binnenperspektive galt der Süden als zu lösendes Problem. Der Süden fungierte in den italienischen Identitätsdebatten nach der staatlichen Vereinigung nicht nur als negatives Abbild des Nordens, sondern der Süden begann, für Missstände im Gesamtstaat herhalten zu müssen. Auch im Falle Spaniens entstand das Bild eines „Spanienproblems“, eine mit antihabsburgerischen Versatzstücken aufgeladene Wahrnehmung eines spanischen Irrweges, der außer- wie innerspanisch wirksam war, und der dem touristisch-verklärten Blick von Spanien als natürlicher, doch exotischer Schönheit in keiner Weise widersprach.

Eine weitere inhaltliche Klammer mehrerer Aufsätze ist, dass sie anhand vieler Beispiele aufzeigen, dass die vorgestellten Bilderwelten im Zusammenwirken von Fremd- und Eigenwahrnehmung entstanden und propagiert wurden, dass solche „Ansichten auch immer Produkte eines komplexen Zusammenspiels von sich verändernden Betrachtungen sind“, wie Efi Avdela am Beispiel über Wertevorstellungen in Griechenland in den 1950er- und 1960er-Jahren illustriert (S. 127). Die Vorstellung, dass „Ehre“ und „Schande“ Bestandteile eines spezifisch griechischen Wertecodes bildeten, einte die erkenntnisleitenden Vorstellungen amerikanischer und griechischer Sozialanthropologen. Die Konstruktion der Bilder des Südens prägten Menschen aus dem Norden wie aus dem Süden gleichermaßen. Die Bewohner der marginalisierten Landesteile versuchten stets auch selbst zu messen, wie groß die Distanz zu dem als fortschrittlich wahrgenommenen Europa (noch) war. Schließlich werden die Wandelbarkeit und die Willkürlichkeit der Raumaufteilung Europas aufgezeigt. Anhand deutscher Geographiecurriculae zeigt Hans-Dietrich Schultz die sich stetig ändernde Raumaufteilung Europas und verdeutlicht unter anderem am italienischen Beispiel deren Willkürlichkeit: Behaupteten Geographen vor der Einigung Italiens, die Halbinsel sei kein einheitlicher Naturraum und die staatliche Einheit widerspräche den Gesetzen der Geographie, wurde nach 1860/61 die naturräumliche Einheit des Stiefels betont.

Bei der zweiten Leitfrage des Buches, der nach der Valenz eines Raumbegriffes Südeuropa, kommt man nicht an Fernand Braudel vorbei. Braudel veröffentlichte 1949 sein opus magnum über die méditerrannée.1 Nach Braudels Ansatz waren nicht nur die historischen und politischen Rahmenbedingungen entscheidend, sondern auch die naturräumlichen Vorraussetzungen bestimmten das menschliche Handeln im Mittelmeerraum. Die Auseinandersetzung mit diesem Konzept zieht sich wie ein roter Faden durch die meisten Beiträge, und bildet das Gelenk zwischen dem Beschreiben des mental mapping und dem Ringen um die Verwendung einer „südeuropäischen“ Kategorie in der Geschichtsschreibung. Denn Braudel und sein Ansatz werden zum einem historisiert, indem zum Beispiel Jan Jansen seinen Werdegang innerhalb des kolonialen Kontextes in Frankreich aufzeigt, Martin Baumeister die Bedeutung latinischer Mittelmeerkonzepte für eine imperialen mare-nostro-Politik erwähnt. Zum anderen wird sein Ansatz geprüft, indem zum Beispiel die naturräumliche Bestimmung des Mittelmeerraums anhand der von Braudel angeführten Trias von Olive, Weizen und Wein hinterfragt wird.

Die meisten Autoren äußern sich abschließend sehr skeptisch, ob das Konzept der méditerranée im Speziellen oder das der Geschichtsregion im Allgemeinen einen heuristischen Mehrwert birgt. Karl Kaser, Jan Jansen, Efi Avdela und Hans-Dietrich Schultz bestreiten dies, während Stefan Troebst in seinem Beitrag eine Lanze für sein Konzept der Geschichtsregion bricht (und diese als einen größeren historiographischen Konsens darstellt, als sie – zumal im besprochenen Sammelband – ist). Die Argumente wurden bereits an anderer Stelle ausgetauscht, unter anderem in Troebsts Aufsatz sehr ähnlichem Beitrag im H|Soz|Kult-Forum2, und neue Argumente wurden der Diskussion nicht hinzugefügt. Betont sei nur, dass Stefan Troebst sich nicht auf die Kritik an geschichtsregionalen Zugriffen einlässt, wenn er Karl Kaser vorwirft, aus Gründen politischer Korrektheit das Konzept abzulehnen. Schließlich handelt es sich bei der Kritik an den Raumkonzepten nicht in erster Linie um politische, sondern um methodische Grundfragen. Wie lange setzt man den Zeitraum, in dem ein regional definierter Struktur- und Handlungsraum existiert? Wann und warum hört dieser auf, ein solcher zu sein? Ebnet ein Großraumkonzept nicht regionale Differenzen ein, und lenkt damit den Blick der Forschung?

So bleibt zu konstatieren, dass auch dieser Sammelband der Debatte um historische Raumkonzepte – abgesehen von der notwendigen Blickerweiterung auf den Süden – nichts Neues hinzufügt. Bei der Frage nach der Valenz des Konzeptes Geschichtsregion wäre zwar eine Revision der bisherigen Debatten wünschenswert gewesen. Deren Ausbleiben aber scheint mir vor allem dem Umstand geschuldet, dass bislang kein synthetisches Konzept in Sicht ist, in dem ein geschichtsregionaler Zugriff unter Berücksichtigung der Problematiken und diskriminierenden Zuschreibungen durch die kognitiven Landkarten in der Geschichte gewinnbringend angewandt wird. In der Debatte stehen sich nach wie vor Geistes- und Diskursgeschichte über den Westen auf der einen Seite und Geschichtsschreibung über eine entfernte Region an Hand bestimmter Merkmale auf der anderen gegenüber. 30 Jahre nach dem Erscheinen von Edward Saids Orientalism3 und zehn Jahre nach Beginn der Debatte um Balkanismus versus Südosteuropa4 scheinen die Positionen noch immer unvereinbar. Dass eine Kombination beider Zugriffe jedoch durchaus vielversprechend ist, zeigt zum Beispiel Avdelas Aufsatz in dem Sammelband. Bezeichnend ist aber, dass es sich dabei aber um eine kleine und nationale Untersuchungseinheit wie Griechenland handelt, und nicht um eine schwer zu bestimmende Geschichtsregion.

Raumkonzepte, und das lehren die im Band beschriebenen und analysierten Südeuropakonzeptionen, laufen Gefahr, zu Instrumenten einer intereressengeleiteten Außenpolitik zu werden. Aufgabe der Geschichtswissenschaften sollte auch sein, kritisch zu beäugen, ob historische Herleitungen angeführt werden im Sinne einer „mare nostro“-Politik Frankreichs oder von Seiten der EU. Ob der Geschichtsregionalismus hierfür das geeignete Instrument ist, muss weiter diskutiert werden. Dem Tagungsband hoch anzurechnen ist aber eben der kritische Blick auf Südeuropakonzeptionen, ihren Kontext und ihre machtpolitischen Implikationen. Genau das macht ihn zu einem schönen Buch, das sich anregend liest und zum Weiterdenken Anreiz bietet.

Anmerkungen:
1 Braudel, Fernand, La Méditerranée et le monde méditeranéen à l'epoque de Philippe II, Paris 1949.
2 Stefan Troebst: Region und Epoche statt Raum und Zeit - „Ostmitteleuropa“ als prototypische geschichtsregionale Konzeption. In: H-Soz-u-Kult, 29.05.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2006-05-001>.
3 Said, Edward W., Orientalism, New York 1979.
4 Zur Diskussion um den Raumbegriff Südosteuropa s. Sundhaussen, Holm, »Europa balcanica. Der Balkan als historischer Raum Europas«, Geschichte und Gesellschaft, Jg. 25 (1999), S. 626–653, sowie Todorova, Maria, »Der Balkan als Analysekategorie: Grenzen, Raum, Zeit«, Geschichte und Gesellschaft, Jg. 28, (2002), S. 470–492.

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03.04.2008
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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